Eine Reise nach Berlin: Pioniere, Politik und Partnerschaften

Reisen kann man aus den verschiedensten Gründen, real oder fiktional. Jeder neue Ort und jede Erfahrung hinterlassen Spuren in unserer Gedankenwelt. Reisen implizieren ein Gefühl von Freiheit und Glück, bedeuten neue Eindrücke und Inspirationen, ermöglichen es, Grenzen auszuloten, den Horizont zu erweitern und Menschen zu treffen, die man schon kannte oder erst durch das Reisen kennenlernt. Was einem vom Reisen bleibt, sind Momentaufnahmen. Die meisten der Reiseziele, die wir uns setzen, sind nur zum Teil existierenden Orte.

Vielfach handelt es sich auch um psychische Zustände, Erinnerungen, Erwartungen, Imaginationen und innere Vorstellungswelten. Manchmal sind es persönliche Ausformulierungen von literarischen Fiktionen oder historisch-geographischen Verortungen. Die abgeschlossene, unerreichbar gewordene Vergangenheit, die man durch das Reisen wiederzufinden sucht, die Neugier auf eine andere Welt, auf ein Verständnis größerer Zusammenhänge, ein Blick auch in die Zukunft unserer Gesellschaften. 

Eine Reise nach Berlin erscheint in diesem Zusammenhang eher langweilig. Wie oft schon bin ich in Berlin gewesen, im ehemaligen Ost-Berlin im Kreise künstlerischer intellektueller Verwandter. Ich erinnere mich an zugezogene Vorhänge, an Gespräche im Park, um den Mikrofonen der Stasi zu entgehen, an ein Gefühl der Beklommenheit und der eingeschränkten Freiheiten und Freiräume.

Ich erinnere mich an Besuche im Kreise der Familie in West-Berlin, an Linoleumfußböden in Mietshäusern, altertümlich wirkende Duschen und Toilettenspülungen, Urgroßmütter, Großmütter und eine Vielzahl von Tanten. Gereist sind wir in aller Regel mit dem alten Mercedes 240D von meinem Vater. Bizarre Grenzkontrollen, Polizisten, die mit Spiegeln auf Rädern unter unser Auto schauten, Pässe, die über lange Laufbänder verschwanden und irgendwann wieder in unsere Hände zurück gelangten. 

Heutzutage ist die Anreise nach Berlin einfacher, selbst mit der chronisch unzuverlässigen Deutschen Bahn und den veralteten S-Bahnen in der Stadt, die beide auf eindrückliche Weise unterstreichen, wie gering in Deutschland das politische Bewusstsein für die Notwendigkeit einer modernen und leistungsfähigen Infrastruktur ausgeprägt ist, wie sehr wir uns auf den Errungenschaften früherer Zeiten ausruhen ohne zu merken, dass sich die Welt an anderer Stelle mit einer viel größeren Dynamik weiterentwickelt und wir so nach und nach wegen mangelnder Investitionen in die Zukunft abgehängt werden. 

Berlin hat sich natürlich in den letzten drei Jahrzehnten gewandelt. Als ich vor ein paar Jahren mit meiner Tochter am Check-Point-Charly stand und sie voller Überzeugung und doch vollkommen verkehrt auf das ehemalige Ost-Berlin zeigte und es als westlich deklarierte, weil es schlichtweg moderner aussah, wurde mir deutlich, wie wenig nach der Wende geborene Menschen trotz aller Schulbildung und Lektüre über unsere jüngere Vergangenheit wissen; ein Bewusstsein, dass derzeit noch viel stärker in den Vordergrund rückt, wenn Erinnerungen an die Weimarer Republik wach werden, an das Erstarken des Nationalsozialismus mit all seinen schrecklichen Folgen, und deutlich wird, dass wir in Deutschland wie in ganz Europa derzeit mit einem geschichtsvergessenen Wiedererwachen nationalistischer, ausgrenzender und rechtsradikaler Strömungen konfrontiert werden, die uns potentiell in die Katastrophe führen. 

Anschaulich dafür war ein Bild auf dem Pariser Platz, auf dem im Kontext der Fußball-Europameisterschaft ein Eingangsbereich zu einer sogenannte Fan-Meile errichtet worden war, die sich vom Brandenburger Tor über die Straße des 17. Juni bis zur Großen Querallee erstreckte. Einem ukrainischen Fußballfan mit riesengroßer blau-gelber Fahne stand dort ein älterer, grau gekleideter Mann mit etwas schütterem Haar gegenüber, der sich ein Schild auf die Brust geheftet hatte, auf dem der russische Staatschef Putin mit dem Frieden gleichgesetzt wurde; ein Mann, der für den Tod und das Elend hunderttausender Zivilisten und Soldaten in einem völkerrechtswidrigen Krieg verantwortlich zeichnet und gegen den der Internationale Strafgerichtshof wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen Haftbefehl erlassen hat. Während aus der tragbaren Musikbox des ukrainischen Fußballfans Freiheitslieder erklangen, erinnerte sein Gegenüber an Zeugen Jehovas, die ihren Wachtturm mit dem Hinweis auf Putins Königreich feilboten, durch das alles Böse beseitigt und ein irdisches Paradies geschaffen werde.

Dummheit, Naivität, Verlustängste, soziale Isolation oder nostalgische Rückblicke auf eine vermeintlich bessere Zeit, es ist nicht in jedem Fall einfach individuelle, soziale und gesellschaftliche Faktoren zu identifizieren, die in einem Kontext gesellschaftlichen Wandels zur Entstehung und Verbreitung derartiger Einstellungen beitragen, den Anspruch aller Menschen auf soziale und rechtliche Gleichheit bekämpfen und ein antipluralistisches, antidemokratisches und autoritäres Gesellschaftsverständnis propagieren. Es ist dennoch und auch gerade deshalb unabdingbar notwendig, sich mit diesen Faktoren auseinanderzusetzen und für Toleranz, Diversität und Demokratie einzutreten.

Dieser Aufgabe verpflichtet fühlten sich auch die verschiedenen Rednerinnen und Redner auf der Jahresversammlung des Stifterverbandes, die den eigentlichen Anlass für meine kleine Reise nach Berlin bot und am 26. Juni 2024 im Gebäude der DZ Bank am Pariser Platz stattfand. Auch wenn dieses sogenannte “Zukunftsfest” in erster Linie der Selbstvergewisserung einer Organisation diente, die sich als Stimme der Wirtschaft in allen großen Wissenschaftsorganisationen und als Impulsgeber in die Politik versteht, so gestattete es doch gute Möglichkeiten der Vernetzung und erlaubte es vor allem nette Menschen wieder zu treffen, mit den ich lange gut und erfolgreich zusammengearbeitet hatte und die mir dementsprechend etwas bedeuten.

Die von der stellvertretenden Generalsekretärin des Stifterverbandes moderierte Veranstaltung bot neben den üblichen politischen Belanglosigkeiten, wie sie der Parlamentarische Staatssekretär im Bundesministerium für Bildung und Forschung oder der Staatssekretär des Niedersächsischen Ministeriums für Wissenschaft und Kultur darboten, durchaus interessante Positionierungen wie sie u.a von Aljoscha Burchardt vom Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz oder vom Co-Vorsitzenden des Vorstandes des gastgebenden Finanzinstitutes, Cornelius Riese, vorgetragen wurden. 

Während ersterer auf die Grenzen der KI in Politik und Verwaltung verwies und eindrücklich schilderte, welche Konsequenzen es hat, wenn zur Errichtung einer Windkraftanlage 15.000 Seiten in einem Landratsamt hinterlegt werden müssen, aber auch unterstrich, dass es möglich sei, den demographischen Wandel durch den Einsatz von KI zu bewältigen, sofern die Arbeitsplätze in Wirtschaft und Verwaltung kreativer, offener und flexibler gestaltet und die Prozesse in der Verwaltung drastisch verschlankt werden, sprach letzterer davon, dass es in unserer Gesellschaft nicht an Wissen und Erkenntnissen fehle und wir auch durchaus wüssten, was eigentlich zu tun sei, es leider jedoch an der Umsetzung mangele. Anders und mit einer Metapher ausgedrückt, “wir hätten sämtliche Zutaten für einen guten Kuchen, bekämen es aber nicht gebacken”.

Wir hätten eine Komplexität in unseren Strukturen und unserer Verwaltungsorganisation geschaffen und sollten sie jetzt auch wieder abschaffen können. Wie dieses geschehen könne, sagte er leider nicht. Unter Rückgriff auf die Systemtheorie von Niklas Luhmann könnte man daraus ableiten, dass wir durchaus in der Lage sind, theoretisch darzustellen wie sämtliche Bereiche der modernen Gesellschaft funktionieren und sie auch in ihrer Struktur verstehen, dass wir System und Umwelt beobachten und auch die Beobachtung beobachten können, dass wir verstehen, dass Systeme in den ihnen eigenen Strukturen operieren, um die Beliebigkeit und die Vielzahl der Möglichkeiten einzuschränken, aber dass dieser deskriptive und konstruktivistische Ansatz ohne primär normative Elemente nicht dazu führt, angemessene Konsequenzen aus unserem Wissen und aus unseren Erkenntnissen zu ziehen.

Vielleicht hilft es, Bildung und Wissenschaft für eine innovationsstarke Gesellschaft zu fördern und zu gestalten, wie ein Motto des Stifterverbandes lautet, sicher jedoch erscheint, dass dieses ohne Toleranz, Vielfalt und Demokratie kaum möglich erscheint, ohne offene Worte für die Probleme und Umbrüche in einer Gesellschaft, die sich verändert, ohne ausreichende finanzielle Unterstützung für Wissenschaft und Forschung durch den Staat, ohne Investitionen in unsere Infrastruktur, in Innovationen und in soziale Gerechtigkeit. Nach einer sich an die verschiedenen Vorträge anschließenden sogenannten Networking Party, die eigentlich eher einem kulinarischen Nebeneinander entsprach, im Prinzip aber Menschen zu den Themen Innovation, Future Skills, mathematisch naturwissenschaftlicher Förderung und Lehrkräfteentwicklung zusammenbringen sollte, übernachtete ich der Nähe des Hauptbahnhofs in einem der vielen modernen, aber auch belanglosen Hotels der Stadt und reiste am folgenden Morgen ausnahmsweise einmal pünktlich mit der Deutschen Bahn wieder zurück ins Oldenburger Münsterland.

Mitgenommen habe ich von dieser Reise vor allem das Bewusstsein dafür, dass wir mehr denn je für eine lebenswerte Zukunft unserer Gesellschaft und unserer Kinder kämpfen müssen, die wir mangels der dafür erforderlichen positiven politischen und gesellschaftlichen Dynamik derzeit dabei sind, zu verspielen. Hoffen wir einmal, dass es sich nur um eine Momentaufnahme im oben beschriebenen Sinne handelt.

Burghart Schmidt