Besuch der Tagung in Eutin

Schlüsselthemen internationaler Reiseforschung

Unter dem vorstehenden Motto stand eine Konferenz, die vom 31. Mai bis 3. Juni 2023 in der Eutiner Landesbibliothek stattfand. Während sich unsere kleine Gruppe, zu der drei engagierte Doktorand:innen des ZHRF gehörten, die aus historischer Perspektive über frühneuzeitliche Reiseberichte promovieren, am Mittwoch und Samstag auf digitalem Wege zuschaltete, nahmen wir am Donnerstag und Freitag in Präsenz teil, um uns vor Ort über den Stand der Arbeiten zu informieren, die von der Forschungsstelle zur historischen Reisekultur in Eutin initiiert werden. 

Vor etwas mehr als dreißig Jahren von Wolfgang Griep gegründet, dann von Susanne Luber und Axel E. Walter weitergeführt und seit kurzem von Jost Eickmeyer geleitet, zeigt sich diese literaturwissenschaftlich geprägte, wenn auch anderen Wissenschaftsrichtungen offenstehende Einrichtung bestrebt, Reiseliteratur von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart zu sammeln, zu erschließen, zugänglich zu machen und zu erforschen. 

Malerisch am Eutiner See in unmittelbarer Nähe einer kleinen und gefälligen barocken Schlossanlage gelegen, die Zeugnis von mehr

als 850 Jahren bewegter Geschichte ablegt und über einen schönen englischen Landschafts- und historischen Küchengarten verfügt, darüber hinaus über eine Arp Schnitger Orgel und etliche Tischbein Gemälde, ist die zur Eutiner Landesbibliothek gehörende Forschungsstelle ein sehr gutes Beispiel dafür, dass es sich nicht nur lohnt in Wissenschaft und Kultur zu investieren, sondern dass ein entsprechendes politisches und finanzielles Engagement unabdingbar ist, wenn wir uns als Gesellschaft in unserer Geschichte und Kultur verorten wollen. Man kann dem Bundesland Schleswig-Holstein und dem Landkreis Ost-Holstein zu dieser Einrichtung nur gratulieren.

Das Reisen in nahe und ferne Welten, Formen der Selbst- und Fremdwahrnehmung sowie -verortung, die Auseinandersetzung mit anderen Menschen, Kulturen, politischen und wirtschaftlichen Strukturen, sozialen Rahmenbedingungen sowie Landschafts- und Naturräumen, war in der Vergangenheit und ist auch heute nicht nur mit Vergnügen, sondern manchmal auch Mühsal, Krankheit und sogar Tod verbunden, nicht nur mit Erkenntnisgewinn, sondern oft auch mit Eroberung und Krieg, resultierte vielfach auch aus Not, Flucht und Vertreibung. Die schriftlichen und bildlichen Zeugnisse von Reisen bieten deshalb im Spannungsfeld von Geschichte und Literatur, von Wahrheit und Dichtung, eine besonders wertvolle und vielseitige Quellengrundlage. Sie spiegeln nicht nur die Geschichte der Wahrnehmung des Fremden wider, sondern auch die historischen Grundlagen der Globalisierung.

Sie standen in der Vergangenheit und stehen auch noch heute für eine gewisse Art der Weltaneignung. Letztere reicht von kultureller und sozialer Begegnung bis hin zu kolonialer Eroberung, von missionarischem Eifer bis hin zu touristischen Zielsetzungen im zeitgenössischen Sinn. 

Die Gattung der Reiseliteratur und -berichte bietet folglich für die historische Forschung sowie literatur-, kultur-, sozialwissenschaftliche sowie anderweitige Fragestellungen etwa aus den Bereichen der historischen Bildforschung, der Anthropologie, der Tourismusforschung oder der Natur- und Umweltwissenschaften reichhaltiges Material, zu dessen Interpretation die Eutiner Forschungsstelle durch die hier besprochene Konferenz beitragen wollte und dieses auch durchaus erfolgreich tat. 

Der wissenschaftlich nachvollziehbare, sowohl interdisziplinäre als auch internationale Ansatz schien dabei in gewisser Weise der Tatsache geschuldet, dass es in Deutschland gegenwärtig nur begrenzt genuine Forschungen zur historischen Reiseliteratur aus dem Bereich der Literatur- und Geschichtswissenschaften gibt.

Die oftmals gelungenen und zeitweise durchaus humorvollen Beiträge der Konferenz zeichneten sich deshalb durch ihre thematische Heterogenität und einen manchmal eher relativen Bezug zur eigentlichen Reisethematik aus. Ohne immer “Schlüsselthemen” im eigentlichen Sinne zu sein, waren sie in einem erstaunlichen Maße dadurch gekennzeichnet, dass sie sich eingehend mit Fragen der wissenschaftlichen Selbstreferenzierung und – verortung befassten und damit indirekt und unfreiwillig darauf verwiesen, dass Teile der Geistes-, Human- und Sozialwissenschaften derzeit einem erheblichen Rechtfertigungsdruck ausgesetzt sind. Dies galt für Fragen der Differenz und Intersektionalität des Reisens (Gabriele Habinger) wie für translatorische bzw. narratologische Ansätze der Reiseforschung (Jullija Boguna, Jost Eickmeyer), für die anregend präsentierte Reise nach Chronotopia (Hasso Spodo) und damit die historische Tourismusforschung wie für Aspekte der Migrationsforschung (Alexander Schunka), für die Verortung der Wissensgeschichte innerhalb der Fachdisziplin (Volkhard Wels) wie für disziplinäre Doppelbewegungen aus volkskundlicher Sicht oder, wie man heute sagen würde, aus der Perspektive der empirischen Kulturwissenschaft (Sonja Windmüller).

Dieser ebenso bezeichnende wie letztlich unglückliche Wandel in der Bezeichnung und damit im auch Selbstverständnis einer Wissenschaft, steht exemplarisch für die weiterführende, aber nicht immer hilfreiche Beschäftigung mit sich selbst. Dass die aufeinanderfolgenden Paradigmenwechsel, Theorie- und Methodendebatten nicht ausschließlich wissenschaftsinhärent sind, sondern – mehr oder weniger reflektiert – auch zeit- und gesellschaftsgebunden, sollte uns zum Nachdenken anregen. 

Der Sinn des Reisens bestehe darin, die Vorstellungen mit der Wirklichkeit auszugleichen, und anstatt zu denken, wie die Dinge sein könnten, sie so zu sehen, wie sie sind, schrieb einst Samuel Johnson, der Mitte des 18. Jahrhunderts durch ein Wörterbuch der englischen Sprache berühmt wurde, welches bis heute fast alle vergleichbaren Lexika dieser sprachlichen Ausdrucksform beeinflusst.

In Abwandlung dieser Feststellung könnte man sagen, dass der Sinn des Forschens darin besteht, die Vorstellungen mit der Realität abzugleichen, und anstatt zu denken, wie die Dinge sein könnten, sie so zu sehen, wie sie sind bzw. waren. Dieser Satz ist nicht als Bezug zu Rankes Diktum zu verstehen, demzufolge der Historiker die Aufgabe hätte, aufzuzeigen, “wie es eigentlich gewesen”, was bekanntermaßen in dieser absoluten Form nicht möglich ist, sondern als ein Appel für ein zwar theoriegeleitetes, aber vor allem quellenkritisch orientiertes Forschen in einem Themenfeld, das uns durch die rund 9.000 gedruckten Reisebereichte der frühneuzeitlichen Überlieferung einen enormen Fundus liefert, vergangene Welten, Konzepte und Ideologien besser zu verstehen. Positiv herauszuheben ist in diesem Kontext der unmittelbare Bezug vieler Referentinnen und Referenten zu den historischen Quellen, die in Eutin durch die gesammelten Reiseberichte und vorhandenen Datenbanken in einmaliger Form zugänglich gemacht werden. 

Von Rousseau´s Diskurs über die Ungleichheit aus dem Jahre 1755, der sich auf die Reisetätigkeit wahrheitssuchender Reisender zur philosophischen Erkenntniserweiterung bezog, über die Interpretation bildhafter frühneuzeitlicher Darstellungen von Künstlern unter Spionageverdacht (Ulrike Boskamp) sowie Martin Zeiller und seinen Fidus Achates, den getreuen Reisegefährten aus dem Jahre 1653, den der Direktor der Eutiner Landesbibliothek aus einem interkonfessionellen Blickwinkel zu betrachten suchte – wobei es schon damals weniger um Interkonfessionalität als vielmehr um das Bestreben ging, jenseits jeglicher konfessioneller Zuschreibung ein möglichst breites Publikum erreichen zu können – bis hin zu August Schlözer und seinem Entwurf zu einem Reise-Collegio aus dem Jahre 1777,

reichte das Spektrum herangezogener Reisebeschreibungen, ergänzt u. a. durch Hans Staden und seine Wahrhaftig Historia und Beschreibung aus dem Jahre 1557, Johan Schildtberger und seine wunderbarliche unnd kurzweylige Historie sowie Theodor Zwingers Theatrum vitae humanae aus dem Jahre 1565, dessen letztes Kapitel sich mit dem “unnützen Reisen” befasste und in gewisser Weise als Gründungstext des historischen Romans gelten kann, während sein Methodus apodomica aus dem Jahre 1577 auf die Möglichkeit der Kenntniserweiterung durch das Reisen verwies und damit indirekt auf den Anfang der Geschichte der Sozialforschung. 

Tatsächlich war das Spektrum der herangezogenen Quellen sehr weit gefächert. Während des Heiligen Abtes Brandan Historia und Schiffahrt in daß Paradis aus dem Jahre 1605 rein fiktiv war, die Hystorien vom Amadis auß Franckreich aus dem Jahre 1561 einen vielbändigen historischen Roman aus dem 16. Jahrhundert repräsentierten und das Ryssbuch deß heyligen Landes Ende des 16. Jahrhunderts in seiner Vorrede sieben Gründe für die Lektüre von Reisegeschichten aufführte, unterschied Gerhard Johannes Vossius in seiner De philologia aus dem Jahre 1650 bereits dezidiert zwischen “Geographia”, “Genealogia” und “historia proprie dictam”, d. h. zwischen einzelnen wissenschaftlichen Ansätzen.

Während in der Diskussion durchaus kontrovers argumentiert wurde, beispielsweise wenn es darum ging, den Beginn der Differenzierung zwischen “Geschichte” und “Geschichten”, zwischen historia vera, historia ficta und historia fabula chronologisch zu verorten, blieb allen Teilnehmenden letztendlich die Erkenntnis, die einst Gustave Flaubert schon formulierte: Reisen macht einen bescheiden. Man erkennt, welch kleinen Platz man in der Welt besetzt, eine Zustandsbeschreibung, die sich durchaus auf uns als Wissenschaftler übertragen lässt. Auch uns stände eine gewisse Bescheidenheit in der Formulierung von Gewissheiten durchaus gut zu Gesicht, schließlich nehmen auch wir, ob wir es wollen oder nicht, mit unseren Thesen und Gedanken nur einen winzigen Platz in Zeit und Raum ein. 

Insgesamt können wir den Veranstaltern zu der anregenden und gut organisierten Veranstaltung nur gratulieren und ihnen viel Erfolg bei den durchaus ambitionierten Vorhaben wünschen, in nächster Zeit nicht nur einen Tagungsband, sondern auch eine neue, jährlich erscheinende Zeitschriftenreihe “In Via” zur historischen Reisekulturforschung sowie ein entsprechendes Handbuch herausgeben zu wollen.